44 Jahre bin ich nun alt. Habe dies und jenes gesehen, erlebt und erreicht. Ich bin mehr als zufrieden mit dem, was ich bisher geschafft habe, freue mich auf die Zukunft und bin dankbar für meine Frau und meinen Sohn - die wichtigsten Menschen in meinem Leben.
Dennoch gibt es Momente, in denen ich nachdenklich werde. Zweifle, traurig bin. Ich würde mein Leben gerne auch mehr mit meiner Mutter teilen, doch in Wahrheit haben wir seit einem Jahr nicht den Hauch eines Kontaktes. Dabei war es einmal genau das Gegenteil.
Was ist schief gelaufen, wo ging der rote Faden verloren?
Geboren und aufgewachsen bin ich in der Nähe von Augsburg. Dort wo Menschen nicht gerade hochdeutsch reden. Wären wir bei RTL, müsste man sie mit Untertiteln im Fernsehen zeigen. Jeder kannte jeden und jeder wusste alles über jeden. Schon lange vor Social Media gab es bei uns schon den gläsernen Bürger.
Meine Eltern führten ein kleines Unternehmen für Abdichtungen am Bau, die Geschäfte liefen glänzend. Wir hatten ein nettes Haus mit gepflegten Garten, mein Vater konnte sich den ein oder anderen teuren Wagen leisten, meine Mutter teuren Schmuck. Im Winter ging es zum Skifahren in die Schweiz, im Sommer nach Jesolo oder Bibione am Meer (so wie die gesamte Nachbarschaft). Wir spielten Tennis, ich lernte ein Instrument. Alles bodenständig.
Nachdem meine 10 Jahre ältere Schwester ausgezogen war, ging es bei uns zuhause eher ruhig zu. Ich war zwar nicht der engagierteste Schüler, aber ansonsten ziemlich umgänglich. Anstelle von Partys traf ich mich mit einem oder zwei meiner besten Freunde auf einen Filmeabend oder zum gemeinsamen Konsolen-Spielen. Sehr zur Freude meiner Mutter, die meine eher unspektakulär verlaufende Pubertät als Wohltat empfand, nachdem meine Schwester (sorry, aber das muss mal gesagt werden) ziemlich das Gegenteil war.
Ich verbrachte viel Zeit mit meiner Mutter, wir teilten gemeinsame Vorlieben wie das Theater, bestimmte Musik. Wir gingen gerne gemeinsam einkaufen oder werkelten im Garten. Hätte man uns damals kurz und knapp beschreiben müssen, es wäre wohl so etwas wie "Ein Herz und eine Seele" gewesen.
Wir waren die absolut perfekte deutsche Vorzeigefamilie, durch und durch bürgerlich. Und so nahm das Leben seinen gewohnten Lauf. Meine Schwester machte ihre Ausbildung, lernte einen Mann kennen, verliebte sich und heiratete. Mein Neffe wurde geboren. Leider hielt die Ehe nicht, es kam zur Scheidung. Ein erster Riss in der perfekten Fassade. Naja, egal, passiert. Zum Glück fand sie nach einigen herben Enttäuschungen dann ihren jetzigen Mann und meinen Schwager, bekam mit ihm zusammen meine Nichte und alle leben glücklich und zufrieden.
Ich entschied mich nach der Schule für eine Laufbahn bei der Armee und das ohne es vorher mit meinen Eltern zu besprechen. Denn die sahen ihren perfekten bürgerlichen Jungen natürlich in einem perfekten bürgerlichen Job und der war entweder bei der AOK oder der Sparkasse. Ok, nichts gegen diese Berufe aber für mich war das einfach nur zum Gähnen langweilig und da ich bereits volljährig war, brauchte es keine Einverständnis und so wurde ich 1996 freiwillig eingezogen. Damals war es mir noch nicht so bewusst, aber heute ist mir klar, abgesehen von meinen Großeltern war das kaum jemand recht. Meiner Mutter schon gar nicht, sie konnte sich nie mit dieser Entscheidung anfreunden.
Aber egal. Alles war im Lot, alles lief wieder nach Plan, die Risse der Fassade waren längst geflickt. Die dörfliche Erfolgsgeschichte hätte wunderbar seicht weitergehen können, wenn... Ja wenn nicht eines Tages aufgeflogen wäre, das mein Vater leider eine schon ziemlich lange andauernde Affäre mit einer verheirateten Frau hatte. Eine schwere Zeit. Ich versuchte meiner Mutter so gut es ging zu helfen, die Trennung zu bewältigen. Die Scheidung wurde schmutzig und langwierig und es dauerte seine Zeit, das zu verdauen.
Nun war das perfekte Leben endgültig vorbei. Der Schein täuschte, die Wahrheit zeigte ihr hässliches Gesicht. Doch siehe da, die Erde drehte sich weiter, meine Mutter heiratete erneut und mein Vater ebenso. Nun war also ich noch an der Reihe und heiratete meine Freundin, mit der ich zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre zusammen war. Sie war ein Sonnenschein, Everybody's Darling... Und leider ziemlich unehrlich. So kam es dann auch, dass sie mich eines Tages nach 13 gemeinsamen Jahren von heute auf morgen ohne Vorwarnung verließ. Sie presste jeden ihr nur zustehenden Cent und auch darüber hinaus aus mir heraus, und veranstaltete vor ihrem offiziellen Aus- und Umzug ans andere Ende von Deutschland eine Art Abschiedstour bei meiner Familie, bei der sie kein einziges gutes Haar an mir ließ und mich sogar beschuldigte, ich würde keine Kinder wollen und außerdem hätte ich eine Affäre mit meiner besten Freundin. Was sie jedoch weder meiner Familie noch unseren Freunden erzählte war die Tatsache, das sie es war, die schon länger einen Anderen hatte. Kurz gesagt, allzu schön war es nicht.
Und ich glaube, hier fing meine Mutter damit an, mit ihrem Seelen-Auto falsch abzubiegen. Zunächst einmal glaubte sie meiner Ex-Frau die wirren Behauptungen, ohne überhaupt mit mir gesprochen zu haben und bis heute, viele Jahre später, habe ich das Gefühl, dem ist nach wie vor so.
Aber auch für mich musste das Leben weitergehen. Ich war verletzt, wütend, traurig. Wie das eben so ist, wenn man nach all den Jahren von jetzt auf gleich so vor den Kopf gestoßen wird. Zu meinem eigenen Glück lernte ich ein halbes Jahr nach der Trennung meine heutige Frau kennen und verliebte mich vom ersten Moment an unsterblich. Das sie ein Kind in unsere Beziehung brachte war für mich sogar noch das I-Tüpfelchen. Wer will es mir verdenken, das ich dieses Glück gerne mit der Person teilen wollte, die mir immer so wichtig gewesen ist im Leben: Meine Mutter.
Doch die hatte sich verändert. Obwohl selbst eigentlich wieder glücklich schien sie in der Vergangenheit zu leben. Die Trennung von meinem Vater hatte sie auch nach Jahren nicht überwunden, das merkte man, wenn dieses Thema zufällig aufkam. Und meine neue Partnerin? Das Kind? Nun ja, sie waren eben da. Was sollte sie machen? Aber es gab keinerlei Bemühungen, meine Frau wirklich zu integrieren, oder meinen Sohn. Alles war distanziert und auf Abstand. Zudem erfuhr ich, das meine Mutter nach wie vor Kontakt zu meiner Ex-Frau hegte. Man gratulierte sich munter zu Geburtstagen oder anderen Festivitäten und selbst Einladungen zum Kaffee wurden ausgesprochen.
Ich bin wirklich entspannt, glaubt mir. Aber hier war mein Verständnis irgendwie so schnell aufgebraucht, wie ein Tropfen Wasser in der Wüste von Arizona verdunstet. Diese Frau hatte mich betrogen, ausgenommen, verlassen, mich bei meiner eigenen Familie angeschwärzt und war dann mal eben 800 Kilometer aus der Schusslinie gezogen, nur um danach weiterhin fleißig Kontakt zu halten?
Ich versuchte das Thema mehrmals mit meiner Mutter zu klären, aber ich könnte auch genau so gut mit einem Kaktus reden, der wirft wenigstens einen schönen Schatten. Nun wurde mir plötzlich alles klar. Warum meine Frau keine Chance bekam, warum mein Sohn nicht wie ein Enkel behandelt wurde. Klar, man "unterstützte" die Hochzeit offiziell, aber eigentlich nicht wirklich. Wie gerne hätte sich meine Frau integriert in eine glückliche Familie, doch die Türe war nicht weit genug dafür offen, es gab keine Chance. Und mit jedem Tag der verging wurde es schlimmer. Das führte dazu, das ich innerlich abstumpfte und auch immer wütender wurde. Alle waren sie geschieden und neu verheiratet. Meine Schwester, meine Mutter, mein Vater... Alle hatten neue Partner, die vollkommen anders waren als jene davor.
Doch mir wird das scheinbar nicht gegönnt und lieber badet man im Badewasser der Vergangenheit. Schön abgestanden und schlecht für die Gesundheit, aber man hat sich halt an den Geruch gewöhnt. Als ich dann beruflich bedingt umziehen musste (das passiert, wenn man bei der Armee ist), wurde der Kontakt noch schlechter und seid ich in den USA lebe ist es fast so, als würden wir nicht mehr existieren. Mein Neffe hatte das vor einiger Zeit recht treffend beschrieben: Für die ist das so weit weg, das es nicht mehr vorstellbar ist in deren Universum. Und daher kommt ihr in diesem Universum quasi nicht mehr vor.
So unglaublich das innerhalb einer "Familie" klingen mag, so wahr ist es.
Da sitze ich als nun hier am wunderschönen Strand von Mexiko, schaue auf das Meer und würde mir wünschen, ich hätte eine Mutter, die stolz auf mich ist. Egal ob ich nun Anzug oder Uniform trage. Die meine Frau wie eine Schwiegertochter behandelt und nicht wie einen geduldeten Gast, der Dir schon am zweiten Tag auf die Nerven geht. Und die realisiert, dass sie einen weiteren Enkel hat, auch wenn dieser vielleicht nicht meine DNA besitzt.
So wie früher wird es niemals wieder werden, nicht mal mehr annähernd und die Zeit arbeitet gegen uns alle. Meine Schwester fragte mich vor einiger Zeit, ob ich unsere Mutter denn erst am Sterbebett wiedersehen wollen würde. Von wollen kann keine Rede sein, aber mir fehlt leider die Kraft, um diese Berge von Verbohrtheit und Ignoranz zu versetzen.
Mit dieser Wahrheit muss ich umgehen können, wir alle müssen es.
In diesem Sinne
Euer Bob
P.S. Je mehr ich meine Frau liebe umso mehr schmerzt es mich zu sehen, dass sie nie eine Chance hatte...
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